NWZ: Bericht über Tim Carstens

GEHÖRLOSER HANDBALLTORHÜTER 

Emotionen und Paraden sind seine Sprache

von Michael Hiller

Hochmotiviert zwischen den Pfosten: Keeper Tim Carstens liebt den Handball – und hasst Gegentore.

Tim Carstens spielt für die TSG Hatten-Sandkrug III und ist Handball- Nationaltorhüter – in der Gehörlosen-Nationalmannschaft.

SANDKRUG – Es ist ein kühler Mittwochabend. Meine Mütze habe ich im Auto gelassen, und ich muss auch nicht lange vor der Sporthalle in Sandkrug auf meine Verabredung warten. Tim Carstens kommt bereits um die Ecke, mit der Sporttasche locker über der Schulter und seinem Hut auf dem Kopf. In einer guten Stunde beginnt für ihn das Training mit den Handballern der TSG Hatten-Sandkrug III.

Bis dahin ist er nun mein Plauderpartner. Wobei dieses „Gespräch“ ganz anders verlaufen wird, als die alltäglichen Termine eines Lokalsportredakteurs. Denn Carstens ist gehörlos. „Von Geburt an“, vermittelt der 45-Jährige in Gebärden, während wir uns einen Raum in der TSG-Halle suchen. Zur Übersetzung ist Daniela Raabe-Driesen dazugekommen. Sie ist staatlich geprüfte Gebärdensprachdolmetscherin, kennt Tim Carstens schon seit langer Zeit.

Hut als Markenzeichen

Wir nehmen im leeren Bistro Platz. Carstens zieht die Jacke aus, darunter kommt in leuchtendem Gelb sein Torhüter-Trikot zum Vorschein. Natürlich das der Nationalmannschaft. Den Hut behält er die meiste Zeit auf. „Der ist zu meinem Markenzeichen geworden“, erklärt er. „Sieht cool aus und gefällt mir.“

Respekt hat sich Tim Carstens in seinem Leben reichlich verdient. Denn trotz der Behinderung ist er unbeirrt seinen Weg gegangen. „Ich bin der einzige Gehörlose in der Familie, quasi das schwarze Schaf“, erzählt er. Wir lachen. Und sollen es auch, wie in der nächsten Übersetzung deutlich wird, wenn Carstens klarstellt: „Humor ist wichtig. Ohne Witz geht es nicht, sonst ist das Leben langweilig!“

Und langweilig war sein Leben bestimmt nie. Die Schulausbildung am Landesbildungszentrum für Hörgeschädigte führte ihn bis zum Hauptschulabschluss. Als Maschinenbaumechaniker war er lange in Tweelbäke bei Friebe und Gerdes tätig, heute arbeitet Tim Carstens bei Danish Crown in Dinklage in der Verpackungsindustrie. Der Sport war und ist in seinem Leben – neben der Familie – stets der wichtigste Begleiter. „Einmal Handball, immer Handball“, lacht der Torhüter, der nicht nur bei der dritten Herren der TSG (Regionsoberliga) im Kasten steht, sondern auch seit knapp 20 Jahren schon ein fester Bestandteil der Gehörlosen-Nationalmannschaft ist.Der Handball wurde ihm durch seinen Vater Jürgen und die beiden älteren Brüder Frank und Maik praktisch mitgegeben. „Ich bin als kleiner Junge angefangen. Mein Vater hat damals in der Regionalliga gespielt. Ich war gefesselt davon, was er tut – vor allem von dem technischen Spiel“, erinnert sich Tim Carstens zurück. Dabei lächelt er wieder.

Ehrgeiz entwickelt

Man spürt, wie er anfängt seine Geschichte noch einmal innerlich zu leben. Wobei: Dass er es im Handball so weit bringen würde, daran hatte anfangs nicht einmal seine Familie geglaubt. „Ich wollte immer mit meinen Brüdern spielen, war aber oft außen vor. Ich war neidisch auf die beiden, dass ihnen mehr ermöglicht wurde als mir als Gehörloser“, erzählt der 45-Jährige, um grinsend hinzuzufügen: „In der Jugend haben sie mich abgehängt, aber Nationalspieler bin am Ende nur ich geworden. Das hätte damals niemand für möglich gehalten.“

EINE HANDBALLVERRÜCKTE FAMILIE

Tim Carstens ist 45 Jahre alt und seit seiner Geburt gehörlos. Seine Familie gilt seit jeher als sportbegeistert – die Männer vor allem im Handball. Tims Vater Jürgen Carstens war als aktiver Spieler bis zur Regionalliga erfolgreich, führte als Trainer den Wilhelmshavener HV bis in die 1. Bundesliga.

Der älteste Bruder Frank Carstens dürfte den größten Bekanntheitsgrad haben. Der 50- Jährige ist aktueller Trainer des Erstligisten GWD Minden, für den er bereits als Spieler in der Bundesliga auf Torejagd gegangen war. Zuvor saß Frank Carstens unter anderem beim SC Magdeburg auf der Bank (2010 bis 2013) und war von 2011 bis 2013 anderthalb Jahre Co-Trainer der Nationalmannschaft neben Martin Heuberger. Der zweite ältere Bruder, Maik Carstens (46), machte sich unter anderem beim damaligen Handball-Zweitligisten HSG Varel einen Namen.

Sportlich ist natürlich auch die jüngere Schwester von Tim Carstens, denn Sina (27) war in der Rhythmischen Sportgymnastik schon Landesmeisterin und hat an Deutschen Meisterschaften teilgenommen.Wie er das geschait hat? „Ich habe mich darauf konzentriert, immer besser zu werden. Und wäre meine Leistung nicht so gut gewesen, hätte ich wohl aufgegeben. Aber ich habe viel Lob bekommen. Das hat mich motiviert dranzubleiben“, blickt der Torhüter durchaus stolz zurück. Er spielte unter anderem in Oldenburg beim VfL, in Friedrichsfehn/Petersfehn oder in Kiel. Allerdings war sein sportlicher Weg nicht nur glatt und einfach. „Das Spielen hat mir immer Spaß gemacht, aber manchmal gab es Probleme wegen der Kommunikation“, erzählt Carstens. Er wechselte zwischendurch auch zum Fußball, wurde mit einem Bremer Gehörlosenverein sogar einmal Deutscher Meister und zweimal „Vize“. Doch dann ging er zurück zum Handball.

„Ich liebe meine Mimik“

„Ich bekam eine Einladung zum Lehrgang und war hochmotiviert“, schildert er mit leuchtenden Augen. Da ist sie wieder, Carstens’ Mimik, die unser Treien kennzeichnet und so unterhaltsam macht. Ob er sich nicht eine zweite Karriere als Comedian vorstellen könne? „Wer weiß“, lacht der Nationalspieler. „Ich habe viele Ideen, die ich aus Büchern in meine Kommunikation aufnehme. Ich liebe meine Mimik und sie einzusetzen, damit die Leute lachen.“ Es gelingt ihm auch in unserer Runde – mehrfach.Klar sind Carstens’ Vorstellungen,wenn er über die Gehörlosen- Nationalmannschaft zu berichten beginnt. Im Mai 2022 stehen dieverschobenen Deamympics in Brasilien auf dem Terminplan. Für den 45- Jährigen wäre es nach 2005 in Melbourne, 2009 (Taiwan), 2013 (Bulgarien) und 2017 (Türkei) die bereits fünfte Teilnahme an den Weltspielen im Gehörlosensport. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg. Den ersten Lehrgang hat Carstens mit der deutschen Auswahl bereits hinter sich, ein weiterer folgt vom 16. bis 20. Februar in Haßloch nahe Mannheim. Neben dem TSG-Spieler werden vier weitere Torhüter dabei sein, danach entscheidet sich Bundestrainer Alexander Zimpelmann für zwei Keeper, die nach Brasilien mitkommen. „Ich denke, dass ich aufgrund meiner Erfahrung gute Chancen habe“, hoit der 45-Jährige.

Große Ziele

Für das Nationalteam umreißt er direkt auch ein großes Ziel: „Natürlich die Goldmedaille. Aber das wird verdammt schwer.“ Denn bislang fehlt den Gehörlosen-Handballern ein internationaler Titel. Nach der Vize- Europameisterschaft 2005 in Istanbul folgten für Carstens und Co. drei Bronzemedaillen bei Deamympics. Bei der letzten Aumage 2017 wurde es nur der vierte Platz. Ganz bitter sei die Erinnerung an die EM 2016, als Deutschland den großen Favoriten Kroatien im Halbpnale schon am Rande der Niederlage hatte, am Ende aber doch verlor. „Da war ich richtig sauer und wütend“, so Carstens. Eine Aussage, die Daniela Raabe-Driesen kaum übersetzen muss: Sie erklärt sich durch Carstens’ Geste, der gerade die Hände über dem Kopf zusammenschlägt.

ZUM WETTBEWERB

Die Deaflympics sind ein alle vier Jahre ausgetragener Wettbewerb im Gehörlosensport. Der Name leitet sich aus den englischen Begriien „deaf“ (taub) und „Olympics“ (Olympische Spiele) ab.

Torhüter Tim Carstens von der TSG Hatten-Sandkrug hat mit der deutschen Handball- Nationalmannschaft der Gehörlosen bereits viermal an diesem Event teilgenommen. Unvergesslich sei für ihn die Premiere in Melbourne 2005 gewesen. „Damals haben die Kinder ein ,Herzlich Willkommen’ gebärdet – das war Gänsehaut und ganz toll“, erinnert sich Carstens. Auch bei Punktspielen mit der TSG sei es schon manchmal vorgekommen, dass Zuschauer die Gebärde für Applaus zeigen. Das, so Carstens, freue ihn natürlich ganz besonders und sorge immer für eine Extraportion Motivation.Allerdings zählen für ihn nicht nur Erfolge, auch wenn der Torhüter extrem ehrgeizig ist. „Wichtig ist, dass wir ein Team sind und nicht jeder an sich selbst denkt. Denn wer egoistisch spielt, hat in einer Mannschaft nichts verloren“, pndet Carstens. Deswegen ist ihm auch der „Team-Spirit“ so wichtig. Genau diesen pndet er seit 2018, als er vom VfL Oldenburg kam, bei der TSG Hatten-Sandkrug III vor. „Wir haben in dieser Zeit eine beeindruckende Serie hingelegt und 47 Spiele in Folge gewonnen“, zählt der Torhüter auf. Das Erfolgsrezept sei auch in der gelungen Kommunikation auszumachen. „Es klappt einfach super mit der Mannschaft. Ich verstehe sie, ich gebe Anweisungen, sie verstehen mich.“ Im Spiel werde viel mit Körpersprache agiert. „Meine Mitspieler können zwar nicht gebärden, aber es funktioniert.“Apropos Mitspieler: Die warten bereits in der Halle auf ihren Torhüter. Das Training beginnt, unsere Stunde ist wie im Flug vergangen. Tim Carstens schnappt sich Tasche und Hut und will in die Halle mitzen. Noch einmal denke ich an meine Mütze, dieim Auto liegt. Ich könnte sie gut gebrauchen, aber der Torhüter versteht meine Geste auch so. Als ich aus Respekt symbolisch den Hut vor ihm ziehe…